Erfahrungsbericht über eine 100 km Wanderung
Wenn man selbst im Verein „50 km in 12 Stunden – unser Kleiner Schlackenmarsch“ und „100 km in 24 Stunden – unser Großer Schlackenmarsch“ Märsche organisiert, schadet eigene Erfahrung damit sicher nicht, vielleicht motiviert dieser „100 km in 24 Stunden Erfahrungsbericht“ den einen oder anderen?
Womit alles begann
„100 Kilometer in 24 Stunden“ stand auf einem Flyer der in einem Restaurant vor drei Jahren zufällig in mein Blickfeld geriet, mit der provokanten Frage „Wie weit kannst du gehen?„. Bis zu diesem Zeitpunkt war ich seit Jahrzehnten, absehen von einem kurzem Ausflug in die Welt des Triathlon und einiger MTB-Rennen, ein reiner Läufer, von 5 km Sprints bis hin zum Marathon. Da die damaligen Corona-Auflagen sowie eine nicht enden wollende Wadenzerrung Wettkämpfe in dieser Zeit unmöglich machten, und ich mit Ende 40 ohnehin sportliche Abwechslung suchte, war meine volle Aufmerksamkeit geweckt: „100 km in 24 Stunden“. Gemeint war der 1. Große Schlackenmarsch im Herbst 2020 von Sulzbach-Rosenberg ins tschechische Tachov, bis zu dem es damals noch gut zwei Wochen hin war. Ich war tatsächlich so naiv kurz zu überlegen ob ich mich noch anmelde. Wenn man 10 km wandern kann, dann doch auch 100 km, so meine Idee, man müsse ja nur immer weiter gehen. Zum Glück siegte die Vernunft und die vage Vermutung, dass ein bisschen Vorbereitung auf so einen Marsch nicht schaden könne. Für eine Teilnahme in 2021 war in diesem Augenblick die Entscheidung jedoch gefallen.
Erste Gehversuche – das Training nimmt seinen Lauf
Neugierig darauf wie es sich anfühlen würde marschierte ich wenige Tage später meine 20 km Laufrunde die ich bis dahin problemlos wöchentlich joggte. Und machte dabei die erstaunliche wie auch bittere Erfahrung, dass auf gleicher Distanz Wandern eine größere Belastung für die Füße und Beine sein kann als Joggen, schlicht deshalb, weil man 2 – 3 Mal solange auf selbigen unterwegs ist. Aber der Ehrgeiz war geweckt, und so wurden die gewanderten Strecken Wochenende für Wochenende um jeweils einige km länger.
Das erste Zwischenziel: Der Kleine Schlackenmarsch über 50 km
Etwa drei Monate später lagen die wöchentlichen Trainingsstrecken bei 40 – 45 km, und mehr sollte es auch nie werden. Als Frühaufsteher um 5 Uhr aus dem Bett, zum Mittagessen wieder zu Hause, mehr Frei- und Familienzeit wollte ich dem Vorhaben nicht opfern. Statt immer mehr km drauf zu packen trieb ich das Wander-Tempo nach oben und wechselte das Marschieren mit kurzen Jogging-Einheiten ab. Zudem versuchte ich möglichst viele Alltagsstrecken, für die ich sonst das Fahrrad oder Auto genommen hätte, zu Fuß zu gehen, womit es immer wieder Wochen gab in denen sich die marschierten km auf die Zahl 100 summierten. Die erste Bewährungsprobe war der Kleine Schlackenmarsch im Juni 2021 über 50 km, den ich ohne zu große Qualen finishte. Dennoch schien mir im Ziel der Gedanke völlig absurd, die Strecke noch einmal zu gehen. Schon die 50 Meter von der Bierbank zur Toilette und zurück waren eine kleine Welt aus Schmerz, und den anderen Finishern im Ziel ging es sichtlich nicht anders. Dass ich an meinem Ziel, einige Monate später 100 km zu wandern, festhielt, liegt an einem sehr mächtigen Glaubenssatz:
Man schafft, was man sich vornimmt
Getragen von dieser Hoffnung wanderte ich weiterhin wöchentlich zwischen 40 und 50 km, einige Male zusätzlich unter der Woche ca. 20 km, aber niemals mehr als 50 km am Stück. Und genau das unterscheidet einen 100 km Marsch von anderen sportlichen Wettkämpfen, bei denen die Trainingsdistanzen der Wettkampfdistanz zumindest nahe kommen. Zwei Gedanken halfen mir dabei, dieses Ziel nicht in Frage zu stellen: Andere, denen es ganz genauso ging, haben es ja auch geschafft, zumindest einige davon: Trainierte Füße und Beine voraus gesetzt, ist es der Wille, der einen ins Ziel tragen wird. Und: Wenn man nicht mehr kann, hört man halt auf. Ganz banal. Man braucht sich gewiss nicht schämen, nach 60, 70 oder 80 km abzubrechen, sondern kann sich rühmen, es bis dahin geschafft zu haben, und dort seinen ganz persönlichen virtuellen Zielbogen zu platzieren.
Der Tag der Wahrheit: Startschuss für den Großen Schlackenmarsch über 100 km
Wenn man am nächsten Tag 100 km in 24 Stunden marschieren möchte, ist guter, erholsamer Schlaf die Nacht zuvor äußerst hilfreich. Dummerweise kapiert das eigene Hirn diese Notwendigkeit nicht, sondern zieht es vor, stundenlang die Gedanken um das morgige Wagnis kreisen zu lassen. Leicht gerädert ging es mit dem am Vorabend gepackten Rucksack zum Start, und nach einem deftigen Weißwurstfrühstück in den Startbereich. Gute-Laune-Musik bei schönem Wetter ließen die Müdigkeit und Nervosität schwinden, diese wichen der Vorfreude auf ein ganz spezielles Erlebnis sowie dem ehrlichen Gedanken „Mal schauen wie weit ich komm“. Bzw. wir kommen: In einer Dreiergruppe wollten meine beiden Mitstreiter und ich uns auf den Weg machen, und – so viel darf ich vorweg nehmen – wir durchquerten schlussendlich auch gemeinsam den Zielbogen.
Die ersten 50 km
Die Sonne schien, die Temperatur war angenehm, die Stimmung unbeschwert. Rückwirkend betrachtet verging die ersten Hälfte der Strecke wie im Fluge, und hier zeigt sich die Wichtigkeit der inneren Einstellung: Wäre bei km 50 der Zielbogen gestanden hätten wir uns wohl über die dortige Ziellinie geschleppt. So aber stärkten wir uns bei der 3. Verpflegungsstation in Weiden für die zweite Hälfte der Tour. Der Aufbruch von dort war aber dennoch von einer besonderen Stimmung geprägt: Zum einen von dem Gedanken, jetzt in diesem Augenblick so weit wie noch nie zuvor am Stück gegangen zu sein. Die beginnende Dämmerung ließ aber auch erahnen, dass die kommenden 50 km ihre ganz eigenen Herausforderungen bereit halten werden.
Bis km 80
Bei Dunkelheit zu marschieren, vor allem wenn man schon über 50 km in den Knochen hat, ist schon speziell: Stundenlange, pausenlose Konzentration auf den Weg, um sich im harten Licht der Stirnlampe auf Feld- und Waldwegen nicht zu verletzen. Und trotz sporadisch fehlendem GPS-Empfang immer den richtigen Weg zu finden – 100 km sind lang genug, da ist jeder Meter Umweg ein Meter zu viel. Dazu eine immer schwerere Müdigkeit, die einem immer deutlicher sagt: Um 2 Uhr morgens gehört man in ein weiches, warmes Bett, nicht auf einen abwechselnd steinigen und versumpften Waldweg irgendwo im tschechischen Grenzgebiet.
Die letzten 20 km ins Ziel
Verpflegungsstationen haben, wie der Name schon sagt, die eigentliche Aufgabe, die Teilnehmer zu verpflegen. Der Bedarf an Kalorien und Flüssigkeit auf 100 km ist nicht ohne, der Rucksack wäre sehr schwer ohne die Möglichkeit, unterwegs beides nachzutanken. Ebenso wichtig ist auch eine psychische Komponente: Verpflegungsstationen als helle Oasen im Dunkeln der Nacht unterteilen die Strecke in immer kürzere Etappen, an denen man sich mental ins Ziel hangelt, und jeweils über die hinaus man weder denken möchte noch sollte. Und spätestens auf den letzten 20 km wurde mir auch bewusst, wie wichtig die Entscheidung war, in einer Gruppe zu marschieren. Egal wie gut man sonst alleine mit sich selbst klar kommt, als Teil einer kleinen Herde schleppt man sich auch ohne Worte weiter, wo man sich alleine längst am Wegesrand an einen Baum gesetzt und auf den nächsten Morgen gewartet hätte. Zugegeben, die letzten km waren wirklich bitter. Die Füße schmerzten, die Zeit dehnte sich ins Unendliche, immer größer die nötige Willenskraft, weiter einen Fuß vor den anderen zu setzen. Aber irgendwann waren wir tatsächlich da, nach etwa 19 Stunden!
Im Ziel
Es war dunkel, es war feucht-kalt, der Zielbogen im Schlosshof in Tachow nur von den Straßenlaternen beleuchtet. Um 5 Uhr morgens war keine Menschenseele da um uns zu begrüßen, was aber völlig egal war. Nach dem Zielbogen stand eine Bank, darauf setzten wir uns, und wollten nie wieder aufstehen. Die paar 100 Meter zur Turnhalle in der wir warm duschen und einige Stunden schlafen durften haben wir trotzdem irgendwie bewältigt.
Fazit
Wer 50 km geschafft hat und regelmäßig trainiert, hat die körperlichen Voraussetzungen, 100 km zumindest guten Gewissens angehen zu können. Ob man dann tatsächlich finisht ist hauptsächlich eine Frage der Willensstärke, aber auch des Respekts vor 100 km: Ein „Mal schauen wie weit ich es schaffe“ ist meiner Ansicht nach die richtige Einstellung, zumindest für das erste Mal. Muss man 100 km versucht oder gar geschafft haben? Natürlich nicht. Aber wenn man 100 km gemeistert hat, möchte man dieses Erlebnis in seinem Leben nicht mehr missen.
Ein paar Tipps aus eigener Erfahrung
Training
Für einen 100 km Marsch zu trainieren bedeutet: Gehen, gehen, gehen. Andere Sportarten wie Joggen oder Radfahren können eine hilfreiche Ergänzung sein, um aber 100 km zu finishen kommt man nicht umhin, Monate im Voraus regelmäßig lange Touren zu wandern, und wenigstens einige Male eine 40 – 50 km lange Etappe zu absolvieren. Es ist sicher nicht einfach ein solches Training zeitlich ins Berufs- oder Familienleben zu integrieren, aber mit ein paar Tricks lässt sich die Trainingsintensität steigern ohne noch mehr Zeit zu fressen: Sich mit einem GPS-Gerät zu einem kontinuierlich hohen Tempo zwingen. Mehr Gewicht in den Rucksack als man eigentlich bräuchte, z. B. ein paar zusätzliche Wasserflaschen. Jede Gelegenheit im Alltag nutzen, zu Fuß zu gehen, auch wenn die Füße vom letzten Trainingsmarsch noch schmerzen.
Ernährung
Für jemanden der abnehmen möchte ist langes Marschieren die ideale Sportart: Die ca. 300 – 400 Kilokalorien / Stunde holt sich der Körper durch die (verglichen mit z. B. schnellem Laufen) geringe Intensität vorwiegend über die Fettverbrennung, darum ist die nötige Menge an Nahrung welche man auf den 100 km zu sich nimmt gar nicht so groß. Nach meiner Erfahrung sollte man dabei ausschließlich auf sein Körpergefühl hören: Man isst, wenn man Hunger hat und trinkt, wenn man Durst hat. Und zwar das, worauf es einen gerade verlangt: Gummibärchen, Riegel oder belegte Semmeln, der Körper weiß sehr gut ob gerade Kohlenhydrate oder Salz fehlen. Auf keinen Fall aber über den Hunger hinaus essen, der Organismus hat mit den 100 km genug zu tun als sich auch noch um einen zu vollen Magen zu kümmern. Ich hab beim 100 km Marsch bei km 50 den Fehler gemacht eine weitere Portion Gulaschsuppe zu essen obwohl ich satt war, und mir in den folgenden zwei Stunden ernsthaft überlegt ob ich mir den Finger in den Hals stecken soll. Irgendwann ging’s zum Glück auch so wieder.
Im letzten Drittel der Strecke begann mein Körper seinen Stoffwechsel umzustellen: Puls- und Atemfrequenz stiegen – vermutlich durch die Erschöpfung – kontinuierlich auf Marathonlauf-Niveau, entsprechend stieg der Umsatz an Kohlenhydraten. Ohne einige Dosen Cola an den Verpflegungsstationen und tütenweise Gummibärchen im letzten Abschnitt wäre ich nicht ins Ziel gekommen, packt euch ab der 2. Hälfte also besser etwas Kohlenhydrat-reiche Reserven in den Rucksack.
Ausrüstung
Walking-Stöcke entlasten Füße und Beine beim Wandern, keine Frage. Dies aber nur bei ausreichend geübtem und korrektem Einsatz. Ich hab’s im Training lange Zeit mit Stöcken versucht, aber irgendwann gemerkt, dass ich mit freien Händen flüssiger gehe, und bei den 50 und 100 km zu den ca. 50 % der Teilnehmer gehöre die ebenfalls ohne Stöcke unterwegs waren. Lasst euch beraten, probiert es aus, und entscheidet selbst.
Bei den Schuhen achte ich v. a. auf wenig Gewicht. Richtige Wanderstiefel braucht man meiner Meinung nach in den Bergen, nicht bei uns. Jedes zusätzliche Gramm an den Füssen müsst ihr auf 100 km ca. 150.000 Mal hochheben, das summiert sich.
Für die auf 100 km unvermeidliche Nachtetappe braucht ihr eine (Stirn-)lampe, auch reflektierende Kleidung bzw. eine Warnweste sind dringend zu empfehlen (bzw. vorgeschrieben) da jeder 50 oder 100 km Marsch zwangsläufig auch über bzw. entlang verkehrsreicher Straßen führt.
Und natürlich ein Handy mit ausreichend Energievorrat (Powerbanks): Nicht nur für Erinnerungsfotos unterwegs oder um seine Angehörigen auf dem Laufenden zu halten. 50 oder 100 km lassen sich unmöglich lückenlos ausschildern, und sich nachts in Wanderkarten zu orientieren ist schwierig bis unmöglich, so dass das Benutzen von Navigations-Apps eigentlich Voraussetzung ist. Und wenn ihr nicht mehr könnt oder euch verletzt: Je nach Jahreszeit kann es erschöpft und verschwitzt in der freien Natur sehr schnell sehr ungemütlich werden, da ist euer Handy die einzige Verbindung zum Rest der Welt.
Nehmt meine Meinungen und Tipps aber nicht zu ernst, jeder Mensch ist und tickt anders. Stöbert auch in anderen Erfahrungsberichten zu diesem Thema bis ihr das Gefühl habt, euch darin wiederzufinden. Eine recht ausführliche Sammlung an Tipps für’s Extremwandern habe ich z. B. hier gefunden und auch hier nochmals das Wesentliche zusammen gestellt.
100 km wandern – ist das noch gesund?
Wer sich nach 100 km über die Ziellinie schleppt, sieht nicht aus wie das blühende Leben, keine Frage. Man ist zwar glücklich, aber abgesehen von den Profis der Szene körperlich und mental so am Ende, dass der Begriff Gesundheitssport ziemlich fehl am Platz wirken würde. Nun gibt es jedoch einige „aber“:
Zum einen gilt auch hier der markige Ausdruck „Was mich nicht umbringt, macht mich hart“. Oder etwas medizinischer: Der Körper weiß auf solche Extrembelastungen angemessen zu reagieren, und begegnet ihnen mit einer nachhaltigen Kräftigung des Bewegungsapparates, Herz-Kreislaufsystems und Optimierung des Stoffwechsels. Vorausgesetzt, man lässt ihm die nötige Ruhe und Zeit zu regenerieren, ein paar Wochen Erholung sind nach einem 100 km Marsch also mehr als ratsam.
Zum anderen bedingt die Teilnahme an einem 100 km Marsch monatelanges Training im Vorfeld. Und wie gut Körper und Psyche regelmäßige längere Wandereinheiten in freier Natur tun, braucht man keinem zu sagen der diese Erfahrung kennt.
Und zu guter Letzt: Der Sinn des Lebens besteht ja nicht im Aneinanderreihen von möglichst vielen Tagen, sondern möglichst vielen Erlebnissen und Erinnerungen. Und da kann eine 100 km Wanderung durchaus einen großen Platz darin einnehmen.
Christian Koch, Sulzbach-Rosenberg